Friday 25 June 2010

Tivoli Sturm

60 Menschen bei Jagd nach Bandenführer getötet

Polizisten und Soldaten haben in Jamaikas Hauptstadt Kingston ein Armenviertel gestürmt, in dem sich der mächtigste Drogenboss des Landes verschanzt haben soll. Mindestens 60 Menschen wurden getötet. Bandenführer Coke ist weiter auf der Flucht.

Von Michael Castritius, ARD-Hörfunkstudio Mittelamerika

Als eigene "Republik" sahen die Bewohner ihr Armenviertel Tivoli Gardens, "Präsident" nannten sie ihren Bandenführer und Wohltäter Christopher Coke. Jetzt ist diese "Republik" gestürmt - und Coke weiter auf der Flucht. Er wurde nicht gefunden, erklärte Sicherheitsminister Nelson, weder unter den toten Zivilisten und Sicherheitskräften noch unter den 211 festgenommenen Personen.

Mehr als 1000 Polizisten und Soldaten hatten das verbarrikadierte Viertel unter Beschuss genommen. Inzwischen seien die schwer bewaffneten Bandenmitglieder geflüchtet oder tot, berichteten Anwohner im lokalen Radio. Damit ist aber nur ein Kriegsschauplatz erobert, berichtet die Lokaljournalistin Karen Madden-James aus Kingston: "Es gibt weiterhin vereinzelt Schießereien in anderen Gegenden der Stadt. Die Stimmung ist angespannt. Die meisten Schulen und Geschäfte in Kingston sind geschlossen, was sich auf die wirtschaftlichen Aktivitäten auswirkt, nicht nur in Tivoli Gardens, sondern auch in den Handelszentren der Stadt."

Den Ausnahmezustand in Jamaikas Hauptstadt hat der konservative Ministerpräsident Bruce Golding ausgerufen - derselbe Mann, der neun Monate lang das Auslieferungsbegehren der US-Justiz gegen den mutmaßlichen Drogenboss ignoriert hatte.
Verbindung zwischen Politik und Bandenführern?

Christopher Coke (Foto: Reuters) Großansicht des Bildes [Bildunterschrift: Der Drogenbaron Christopher "Dudus" Coke soll in die USA abgeschoben werden. ]
Kriminelle Banden und die Politik sind in Jamaika traditionell eng verbandelt. Cokes "Republik" Tivoli Gardens, das zu Goldings Wahlkreis gehört, steht der Regierungspartei nahe. Über seine Kontakte und durch Bestechung erhielt der 41-jährige Coke als Bauunternehmer immer wieder staatliche Aufträge. Und seine Bande bekämpfte die Bande der oppositionellen National-Partei. "Es gibt Verbindungen zwischen einigen Politikern und den lokalen Bandenführern. Der Einfluss von Coke ist so groß, dass es dem Premierminister und der Regierung wohl klar war, dass jeder Festnahmeversuch zu einer noch nie gesehenen Eskalation führen würde", sagt Madden-James. "Dieser Auslieferungsantrag wurde einfach schlecht gehandhabt. Die Regierung zögerte. Viele Leute hier sind überzeugt, dass darin die Ursache für unsere aktuelle Situation liegt."
Viele Menschen in Tivoli Gardens fühlten sich wegen Coke sicher

Coke, den die US-Justiz einen der weltweit gefährlichsten Drogenbosse nennt, hatte bislang aber nicht nur politische Rückendeckung, berichtet die Journalistin weiter: "Für die Leute in Tivoli Gardens ist Mr. Coke ein gesetzestreuer Bürger, ein Wohltäter, der ihre Kinder in die Schule schickt und ihnen Schutz bietet. Wie er es schafft, so viel Macht zu haben, ohne gegen Gesetze zu verstoßen, wird dir keiner beantworten. Du wirst nur hören, dass die Leute und ihre Kinder sich unter seinem Kommando sicher fühlen."

Diese Sicherheit ist viel wert: Mit fast 60 Morden pro 100.000 Einwohnern im Jahr ist Kingston eine der gewalttätigsten Städte der Welt. In diesem Sumpf von Gewalt, Armut und Korruption ist die Politik des Landes tief versunken.

In ihm blüht der internationale Waffen- und Drogenhandel, erläutert Krimi-Schriftsteller Peter Paul Zahl, der seit 25 Jahren in Jamaika lebt: "Das ist hier eine Durchlaufstation für Kokain, das von Kolumbien kommt und auf die Bahamas, USA und nach England exportiert werden soll. Und selbst in den Staaten haben sich die Jamaikaner die Großhandelsposition erobert mit gnadenloser Gewalttätigkeit. Die haben selbst die Mafia aus den Stiefeln geschossen. Und von diesem Kokain bleibt hier zuviel hängen, das dann als Crack aufgebacken wird, und unglaublich billig ist. Das kostet genauso viel wie ein Joint. Und dann empfinden die keinen Schmerz mehr und sie kriegen Allmacht-Gefühle; ihnen kann keiner, und die werden dann sehr gewalttätig."

Auch wenn der flüchtige Coke noch ausgeliefert oder getötet werden sollte: das strukturelle Problem Jamaikas bleibt. Tivoli Gardens ist zwar erobert, aber der Krieg zwischen den Banden und dem Staat geht weiter.

Original

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